Das Heft des Handelns
Die Berliner SPD hat den Anspruch, führende politische Kraft in der Stadt zu sein. Sie sieht sich als einzige Partei, die die Stadt zusammenhalten kann und die in der Lage ist, Ost und West ebenso wie die Innenstadt und die Außenbezirke zu repräsentieren. Diese Sicht speist sich auch aus einer stolzen Tradition. Keine andere Partei regiert in Berlin so lange und erfolgreich wie die SPD.
Wir müssen aber eingestehen, dass dieser Anspruch hohl geworden ist. Davon zeugen nicht nur die schmerzhaften Wahlergebnisse in den letzten beiden Jahren. Das Grundproblem der SPD ist, dass sie keine klare Linie mehr hat, die ihr Tun beschreibt. Viel zu häufig verliert sich die SPD im Kleinklein einer tristen Verwaltungslogik oder in blumigen Worthülsen, die im Alltag der Berlinerinnen und Berliner rasch widerlegt werden. Es reicht eben nicht aus zu erklären, man stehe für bezahlbare Mieten, faire Arbeit und gute Bildung für alle, wenn gleichzeitig die Mieten explodieren, prekäre Beschäftigung zunimmt und sich viele Eltern Sorgen um die Qualität der Schulen ihrer Kinder machen. Wir wollen, dass wieder klar ist, wofür die SPD und für wen sie kämpft. Dafür müssen wir den Mut haben, ehrlich zu sagen, was in Berlin los ist.
In den Anfangsjahren der Wowereit-Ära, in der die schmerzhafte aber notwendige Sparpolitik mit einer Öffnung und Belebung der Stadt verbunden wurde, ist es der SPD zuletzt gelungen, der Entwicklung Berlins eine Richtung und den Berlinern eine klare Orientierung zu geben. Es ist Klaus Wowereit zu verdanken, dass Berlin sich zur Welt öffnete. Der frische Wind entfachte eine Dynamik, die Berlin stark veränderte. Lange wurde die Veränderung fast wie ein Selbstzweck bejubelt und gefeiert.
Dabei wurde zu spät erkannt, dass die wirtschaftliche Dynamik, der Zuzug von Hunderttausenden und der Rückzug des Staates durch den zu spät eingeleiteten Stopp der Sparpolitik eine zunehmend polarisierte Stadt hinterlassen haben. Auf der einen Seite stehen nun die Menschen, die die Entwicklung positiv sehen, den Wandel vorantreiben, Neues ausprobieren und mehr Tempo bei der Veränderung einfordern. Auf der anderen Seite stehen Berlinerinnen und Berliner, denen ihre persönliche und soziale Situation Sorgen bereitet und die eine doppelte Erniedrigung erdulden müssen: Sie haben ihre materielle Sicherheit verloren, nicht zuletzt durch immer mehr unsichere Jobs, Langzeitarbeitslosigkeit und eine Wohnungsnot, die sie direkt und massiv bedroht. Zugleich erleben sie, wie der Ton von Leuten bestimmt wird, mit deren Lebensstil ihre Wirklichkeit nichts zu tun hat. Viele Menschen fühlen sich aus der politischen und öffentlichen Wahrnehmung ausgeschlossen. Auch durch die SPD. Sie erkennen sich weder auf den Plakaten noch in der Sprache führender Sozialdemokraten wieder.
Die Parteien insgesamt haben den Wunsch nach Stabilität und Verlässlichkeit unterschätzt und immer wieder durch ihre Politik zur Polarisierung beigetragen. Auch der SPD wird es nicht gelingen, durch ein Programm aus Tausend Spiegelstrichen Orientierung zu geben und die Fliehkräfte zu beherrschen. Im Gegenteil: In scheindemokratischen Parteitagszeremonien verströmt die SPD mehr und mehr den Charme der Berliner Bürokratie.
Es kann kein Trost sein, dass auch die anderen Parteien in Berlin über eine bestürzend geringe Integrationskraft verfügen, sich zunehmend in der Pflege ihrer Kleinstmilieus verlieren und dort auf maximale Mobilisierung bei Wahlen hoffen. Selbst wenn vor allem Linke und Grüne mit der Taktik aktuell erfolgreich zu sein scheinen, wäre es fatal, wenn die nach einer Linie suchende Sozialdemokratie auf diesen Kurs einschwenken würde. Eine weitere Polarisierung der Gesellschaft und noch erbittertere Konkurrenzkämpfe um Ressourcen wie Geld, Platz und Deutungshoheit wären die Folge.
Die SPD muss einen eigenständigen Weg gehen. Sie muss sich den Konflikten in der Stadt stellen, klare Position beziehen und die großen Probleme lösen. Dafür ist nicht weniger als ein echter Neuanfang mit einer inhaltlichen Neuaufstellung notwendig. Dabei wird die SPD es nicht allen recht machen können und sollte es auch nicht wollen. Auch im Inneren wird die Berliner SPD lernen müssen, inhaltliche Konflikte auszuhalten und personelle Konflikte endlich zu beenden. Nur eine Partei, die sich selbst über den Weg traut, wird in der Stadt Vertrauen zurückgewinnen können.
Damit die inhaltliche Neuaufstellung klappt, müssen die Berliner endlich erfahren, wohin die SPD mit der Stadt will. Wie das Berlin aussieht, von dem die Sozialdemokratie träumt, für das sie arbeitet und kämpft.
Dieses Berlin ist für uns eine Stadt, die das Heft des Handelns wieder in die Hand nimmt. Ein Berlin, in dem nicht mehr mit Resignation oder Wut auf all die Dinge geschaut wird, die hier ja doch nicht funktionieren. Eine Stadt, in der der Staat so stark ist, dass ein friedliches und gutes Zusammenleben klappt. Eine Stadt, die sich nicht nur aus ihrer hippen Mitte heraus definiert. Eine Stadt, in der Modernisierung keine Drohung sondern ein Versprechen ist, dass die Dinge besser laufen. Der Weg dorthin muss genau dort beginnen, wo Menschen in Berlin aktuell das Gefühl haben, dass ihnen und der Gemeinschaft die Kontrolle entgleitet.
Berlin braucht ein Wohnungsbauprogramm, mit dem mindestens 100.000 bezahlbare städtische Wohnungen gebaut werden und das das Versprechen einlöst, günstigen Wohnraum zu schaffen. Hierfür müssen den Wohnungsbaugesellschaften mehr Geld aus dem Haushalt zur Verfügung gestellt werden. Die Wohnungsbaugesellschaften müssen sich auf das Wohnen in Berlin konzentrieren, statt auf das Bauen in Brandenburg. In den Kiezen muss die SPD klar Position beziehen zu Gunsten des Wohnungsbaus. Den Diskussionen mit Anwohnern, die sich für ihre Kieze wünschen, dass alles bleibt wie es ist, muss sich die SPD stellen. Man kann nicht für Wohnungsbau in der Stadt sein, aber gegen den Neubau im Kiez. Dazu muss sich die SPD auf allen Ebenen bekennen: Wer im Land Wohnungsbau will, kann das über die Bezirke nicht konterkarieren. Und umgekehrt.
Überall, wo es möglich ist, muss die Mittelschicht entlastet werden. Es sind Menschen mit den eher durchschnittlichen Einkommen, die Berlin Tag für Tag am Laufen halten. Oftmals profitieren sie jedoch nicht von Sozialprogrammen, weil diese auf Menschen ohne oder mit einem sehr niedrigen Einkommen zugeschnitten sind. Darum muss die Entlastung zum Beispiel über die Abschaffung aller Gebühren für Bildung der Kinder, Absenkung der Preise für das JobTicket und der Verwaltungsgebühren erfolgen. Mit diesen Maßnahmen wäre es schnell möglich, eine Durchschnittsfamilie in Berlin um Hunderte Euro netto pro Monat zu entlasten. Außerdem muss überall dort, wo das Land Berlin Einfluss hat, dafür Sorge getragen werden, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse zurückgedrängt werden: Das Land muss in allen Landesbeteiligungen Schluss machen mit Kettenbefristungen und dauernder Befristung. Gelten muss außerdem: Wer Vollzeit arbeitet, darf nicht weniger als 2000 Euro brutto im Monat verdienen.
Unsicherheit, Verrohung und Verwahrlosung in der Stadt muss der Kampf angesagt werden. Angst und Unsicherheit zerstören die Gesellschaft und ihren Zusammenhalt. Berlin besteht aus ganz unterschiedlichen Kiezen und jeder Kiez ist ein Zuhause. Jeder soll sich in Berlin und seinem Kiez sicher fühlen können. Nicht nur die, die sich ein Haus mit Zaun und Alarmanlage oder ein Taxi leisten können. Es ist nicht spießig für saubere Straßen, Plätze und Parks einzutreten. Denn öffentliche Räume und Parks dienen vor allem zur Erholung derjenigen, die keinen eigenen Garten haben oder ein Häuschen in Brandenburg. Sicherheit und Ordnung für alle sind eine sozialdemokratische Idee. Für ihre Umsetzung brauchen wir einen starken Staat, der Parks pflegt, Müll beseitigt und mit ausreichend ausgestatteter Polizei und Justiz Recht und Gesetz durchsetzt. Zum Beispiel durch feste Mitarbeiter auf den U- und S-Bahnhöfen, die Wiedereinführung der Kiez-Polizisten, die landesweite Reinigung aller Parks durch die BSR und ein „Zuhause im Kiez“-Programm zur Verschönerung öffentlicher Plätze.
Berlin braucht eine Bildungsoffensive, die Eltern das Vertrauen in die Schulen zurückgibt und endlich allen Kindern echte Chancen gibt.Gerade weil es viele Reformen gegeben hat, sollte sich die SPD auf die Grundlagen konzentrieren. Berlin muss Kitas und Schulen bauen und sanieren, Erzieher und Lehrer ausbilden, mehr Erzieher und Lehrer einstellen und die Ausstattungen der Schulen auf einen modernen Stand bringen.
Schon immer sind viele Menschen nach Berlin gekommen. Das hat die Stadt groß gemacht und geformt. Wir müssen dafür sorgen, dass alle, die in Berlin leben, hier ihr Zuhause finden. Nicht das Nebeneinander der Vielen, sondern das Miteinander der Vielfältigen macht eine lebenswerte Stadt aus. Zu Hause ist man dort, wo man sich sicher fühlt, wo man sich auskennt und wo man sich einbringt. Genau das ist es, was für alle Menschen in Berlin möglich sein muss. Keiner soll sich hier fremd oder ausgegrenzt fühlen. Das gilt für die, die schon lange hier sind ebenso wie für die, die neu hinzukommen. Berlin muss den Anspruch haben, Heimat für alle zu sein und die klare Erwartung formulieren, dass sich alle nach ihren Möglichkeiten hier einbringen.
Gerade weil die Herausforderungen in Berlin gewaltig sind, muss sich die SPD von einer Politik der Tausend Spiegelstriche verabschieden. Sie braucht den Mut, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und eine eindeutige Richtung vorzugeben. Vor allem muss die SPD wieder liefern – Ideen, Lösungen und spürbare Verbesserungen.
Autoren
Nicola Böcker-Giannini, Neukölln
Björn Böhning, Friedrichshain-Kreuzberg
Kevin Hönicke, Lichtenberg
Sven Kohlmeier, Marzahn-Hellersdorf
Bettina König, Reinickendorf
Joschka Langenbrinck, Neukölln
Lars Oberg, Tempelhof-Schöneberg
Bettina Schulze, Mitte
Hier finden Sie das Positionspapier im pdf-Format zum Download.